Ich lese und höre es immer wieder von Frauen, die sich an mich wenden: „Ist das nicht verrückt, so einen Job aufzugeben?“ oder „Es klingt vielleicht verrückt, aber ich wünsche mir…“.
Mein weises Ich, das andere berät und ermuntert, antwortet dann ganz abgeklärt: „Es ist nicht verrückt, Dir ein gutes Leben zu wünschen.“ Und das sehe ich auch exakt so. Im Sinne von: Es ist völlig legitim, nichts ist falsch daran!
Doch auch ich selbst kenne diese Angst, als verrückt abgestempelt zu werden, sehr, sehr gut! Erst kürzlich kam ich wieder mehrmals kurz nacheinander in Berührung mit ihr. Und wenn ich Dir erzählen würde, was ich letzte Woche erlebt habe, würdest Du vermutlich denken, ich sei komplett ins Gagaland gezogen. Also jetzt so richtig. Mit Erstwohnsitz und ohne Zweitwohnsitz.
(Ok, würdest Du wahrscheinlich nicht, denn Du bist ja eine offene Person, aber trotzdem hab ich Angst, dass Du mich dann für verrückt hältst und deswegen schreib ich es nicht. Hehe.)
Lirum, larum.
Ich denke, es ist an der Zeit, dieser Angst, die so oft mitschwingt, einmal auf den Grund zu gehen und ihr hoffentlich ein Stück ihres Schreckens zu nehmen!
Was heißt das eigentlich, verrückt?
Über die Herkunft des Wortes „verrückt“ habe ich leider im Internet nicht so viele hilfreiche Quellen gefunden, wie ich erhofft hatte. Doch diese hier gibt zumindest ein Indiz:
Dieses erst seit dem 16. Jahrhundert im heutigen Sinne gebräuchliche Adjektiv fußt auf dem Partizip Perfekt des Verbs verrücken; in ihm lebt ein inzwischen untergegangener Bedeutungsstrang des Verbs weiter, denn mittelhochdeutsch „verrücken, verrucken“ wurde nicht nur im Sinne von „an einen anderen Platz rücken“ verwendet, sondern auch in der übertragenen Bedeutung „jemanden aus der Fassung bringen.
Ganz vereinfacht kann man also sagen: Wenn Du verrückt bist, heißt das, Du bist (durch wen oder was auch immer) aus der Fassung/an einen anderen Ort gebracht.
Aus der Fassung gebracht zu sein bedeutet für mich: Du bist aus Deinem Rahmen, der Dich sonst hält, aus einer eher starren Halterung, herausgefallen. Oder herausgesprungen.
Oder herausgetanzt.
Du hast – ob nun gezielt oder ungezielt, freiwillig oder unfreiwillig, etwas Starres hinter Dir gelassen. Dich möglicherweise befreit.
Bist Du verrückt? Hast Du Dich etwa befreit?
Warum ist es negativ bewertet, aus dem Rahmen zu fallen?
Verrückt sein kann also heißen, sich aus einem starren Rahmen herausbewegt zu haben. Das ist erstmal wertungsfrei.
Warum wird dieses Wort so oft negativ konotiert benutzt? Und warum haben meine Leserinnen (und von Zeit zu Zeit auch ich) Angst, als verrückt abgestempelt zu werden?
Na klar, es liegt auf der Hand: „Verrückt“ ist auch ein Synonym für „geisteskrank“. Und als geisteskrank, nervlich überlastet etc. möchte natürlich keine von uns gelten. Denn wer als unzurechnungsfähig gilt, ist unter Umständen schnell weg vom Fenster in vielerlei Sichtweise – und landet im schlimmsten Fall in einer geschlossenen Anstalt.
Warum ist also ein Wort, das ursprünglich bedeutete, aus einem gewissen Rahmen herausgefallen zu sein, gleichgesetzt mit geistiger Unzurechnungsfähigkeit?
Es mag sich für manche Ohren ein bisschen nach Verschwörungstheorie anhören, ist aber vermutlich gar nicht so weit hergeholt: Wer sich aus dem Rahmen des bisher Bekannten löst, seinen Blick und seine Möglichkeiten weitet… der – beziehungsweise DIE – kommt vielleicht irgendwann auf die Idee, den gesellschaftlichen Status Quo anzuzweifeln.
Die Tatsache, dass etwas weit verbreitet ist und von den meisten Menschen stillschweigend akzeptiert wird, heißt noch lange nicht, dass diese Sache auch in Ordnung und zum Wohl aller ist. Mit etwas (geistigem) Abstand betrachtet fällt einem das vielleicht auf.
Und das wiederum gefällt in der Regel genau denen nicht, die von den aktuellen Gegebenheiten profitieren und in der Tiefe ihres verstummten Gewissens wissen, dass das, was sie tun, eigentlich nicht ok ist.
Das waren zum Beispiel vor ein paar Jahrhunderten noch weite Teile der Kirche. Die erklärte kurzerhand Menschen, die irgendwie aus dem Rahmen fielen (oder die einfach nur von irgendwem angeschwärzt wurden) völlig willkürlich als besessen und bösartig und rechtfertigte damit eine völlig wahnsinnige Verfolgung unschuldiger Menschen.
Das endete für die Betroffenen nicht selten mit einem gewaltsamen, äußerst qualvollen Tod.
Als verrückt zu gelten war mal lebensgefährlich
Als verrückt zu gelten, war damals also potentiell lebensgefährlich. Etwas, was sich kulturell über Generationen hinweg so tief und so schmerzhaft eingeprägt hat, wirkt nach.
Auch später wurden Menschen und Bewegungen, von denen die herrschende gesellschaftliche Gruppe (bis heute übrigens weiße Männer, daran hat sich seit Jahrtausenden nichts Grundlegendes geändert) sich in ihrer Macht bedroht fühlte, immer wieder schnell als geisteskrank erklärt und damit „unschädlich“ gemacht oder zumindest in ihrer Kraft beschränkt.
Kein Wunder also, dass wir bis heute eher ungern als verrückt bezeichnet werden – auch wenn das heute in der Regel nicht mehr so drastische Folgen für unser Leben hat.
Wir wollen immer noch lieber zu den „normalen“, unauffälligen, zur Mehrheit gehören. Das war schon immer besser für unser Wohl. Ist abgespeichert.
Aber nicht (mehr) wahr.
Denn das, was wir in den Industrienationen landläufig als „normales“ Verhalten oder Leben bezeichnen, ist genau das, was letztendlich der ganzen Menschheit die Lebensgrundlage entzieht.
Du bist nicht verrückt. Besser: Zum Glück bist Du verrückt!
Aus meiner eigenen Erfahrung heraus und weil ich die eingangs genannten Phrasen immer und immer wieder höre ist es mir ein Bedürfnis, das ein für alle Mal klarzustellen:
Du bist nicht verrückt, wenn Du denkst: „Das kann doch alles so nicht richtig sein!“ Wenn Du erkennst, dass in unserer (Arbeits-)Welt grundlegend etwas nicht stimmt. Wenn Du das nagende Gefühl hast, dass das ständige Gegeneinander statt Miteinander, der ständige Stress und Druck, doch irgendwie nicht gesund und natürlich sein können?!
Wenn Du das so siehst und fühlst, ist nichts falsch mit Dir. Im Gegenteil, es spricht für Deinen äußerst gesunden Menschenverstand!
Oder: Wie wunderbar, dass Du verrückt bist!
Wie gut, dass Du aus dem Rahmen gefallen bist. Dass Du genügend Abstand bekommen hast, um zu erkennen: Hier läuft etwas gehörig falsch!
Denn der Lebensstil, den ein großer Teil unserer Gesellschaft relativ unreflektiert lebt, ist genau der, der die Ökosysteme der Erde – und damit unsere absolute Lebensgrundlage – an den Rand des Kollaps bringt. Und darüber hinaus.
Die Verhaltensmuster und Wertesysteme, die Dir im Kleinen den Alltag verhageln und Dich unter Deiner Arbeit leiden lassen – ich denke da beispielsweise an die völlig rücksichtslose Gewinnmaximierung, die von großen Teilen von Industrie und Wirtschaft betrieben wird – sind die gleichen Muster und Werte, die in größeren Zusammenhängen wirklich katastrophale Arbeitsbedingungen, Ausbeutung und Zerstörung von Natur bedeuten.
Wie wunderbar, dass Du verrückt bist und anfängst, die Dinge in Frage zu stellen.
Es ist an der Zeit, dass wir alle uns verrücken!
Schäme Dich nicht dafür, dass Du Dinge nicht richtig findest, die doch scheinbar „alle“ als normal empfinden.
Es gibt viele, die das so sehen und sich Tag für Tag ergebnislos nach dem Sinn ihres Tuns fragen – doch die wenigsten reißen die Klappe auf. Am Ende werden sie noch als verrückt und nicht zurechnungsfähig abgestempelt.
Und das möchte ja nun wirklich niemand.
Also: Lass uns „verrückt“ neudefinieren.
Lass uns uns und andere verrücken, aus der Kontrolle bringen, uns selbst erfahren und neue Werte in die Welt bringen.
Sprich aus, was Dein Herz Dir sagt.
Wir brauchen eine neue Welt.
Du, mit all Deinem Straucheln, Suchen, Nichtwissen, Verunsichertsein… Du bist ein wichtiger Teil dieser neuen Welt.
Lass uns eine wunderbare, verrückte, neue Welt schaffen. Eine Welt aus gegenseitigem Respekt, Liebe und wunderbaren Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle Wesen!
Es ist möglich.
Wir müssen uns nur trauen, unsere „Verrücktheit“ zu lieben und zu leben.
Lass es uns tun.
In Liebe
die verrückte Suzanne
Merk Dir diesen Artikel bei Pinterest:
Titelbild: unsplash.com | Averie Woodard
Comments are closed.